Kein Datum steht so sehr für die Ambivalenz der deutschen Geschichte, wie der 9. November. Der sogenannte Schicksalstag der Deutschen eignet sich weder zum Feiertag noch zum Gedenktag. An diesem Datum hat sich das beinahe größte Glück des letzten Jahrhunderts ereignet, gleichzeitig steht es für die Kehrseite deutscher Vergangenheit. Damit kumuliert sich im 9. November die ganze Realität der Geschichte überhaupt und wird erfahrbar. In diesem Jahr wollte man den Erinnerungsschwerpunkt vielleicht zurecht auf das Glück von 1989 legen, aber wieder wird die Uneindeutigkeit dieses Tages durch aktuelle Ereignisse klar: Die Amsterdamer Pogrome von letzter Woche weisen unübersehbar auf die schmerzvolle Seite des 9. Novembers hin. Eine der meistgehörten Sätze in den Gedenkreden zur Reichspogromnacht ist das altbekannte „Nie wieder“, wahlweise mit dem Zusatz „ist jetzt“. Auf diesen Satz sollten wir jedoch künftig verzichten.
Eigentlich verbietet sich dieser Text selbst. Er soll von der andauernden Abnutzung wichtiger Worte handeln. Wie aber soll man in Worte fassen, was durch zu viel der Worte und zu wenige Taten verursacht wurde, ohne dabei selbst Abnutzung zu betreiben? Allein, nicht das Zuviel der Worte war jemals das eigentliche Problem, sondern das gleichzeitige Zuwenig an Taten, als würde das eine das andere sogar bestärken. Tatsächlich gibt es psychologische Evidenz dafür, dass Selbstvergewisserung durch schöne Worte das Handeln erschwert; „Ja, dieses Mal muss ich wirklich früher für die Klausur lernen“ oder „Jetzt müssen wir uns unbedingt mal wieder sehen, nach so langer Zeit“. Eine leichte Befriedigung setzt bei diesen Worten jedes Mal ein, die einem sagt, dass man es nur durch das Aussprechen schon ein bisschen geschafft hat. Wir alle prokrastinieren hin und wieder. Wo aber führt es hin, wenn nicht nur ein Staat, sondern eine ganze Gesellschaft dauerhafte Selbstvergewisserung betreibt, ohne zu handeln?
Die deutliche Antwort auf diese Frage hat das vergangene Jahr seit dem 7. Oktober 2023 gebracht. Die Amsterdam-Pogrome der vergangenen Woche haben ein Ausrufezeichen hinter diese Antwort gesetzt. Sie lautet: Unsere kollektive Prokrastination endet für Juden tödlich! Für wen das übertrieben klingt, wer reflexhaft denkt, man solle nicht dramatisieren, weil in Amsterdam bisher noch niemand zu Tode gekommen ist und in Deutschland lediglich Schädelfrakturen verteilt wurden, dem kann man nur entgegnen: Hör auf, zu Prokrastinieren. Deine Selbstvergewisserung wird tödlich enden.
Beinahe die gesamte Berliner Blase verfolgt dieses Prinzip der Selbstbefriedung, während die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden stetig eskaliert. Sinnbildlich dafür steht das „Nie wieder“. Nach den letzten kläglichen Versuchen, es durch ein „Nie wieder ist jetzt“ zu retten, ist es spätestens seit diesem Jahr endgültig entkernt und bleibt als leere Hülle zurück. Wie soll es auch anders sein, wenn dieser Satz auf „Demos gegen rechts“ von denjenigen skandiert wird, die auch „From the river to the sea“ schreien? Darum wird es auch zurecht viele Menschen wahnsinnig gemacht haben, diese leere Floskel am 9. November wieder einmal in unzähligen Reden zu hören. Fragt man sich ernsthaft, was mit „Nie wieder“ dieser Tage gemeint ist, kann man eigentlich nur zu einem Schluss kommen: Wir meinen damit nicht den Antisemitismus, sondern unsere eigene Schuld. „Nie wieder“ schuldig fühlen. Das scheint zumindest die reale Funktion dieses Satzes zu sein, da er zu nichts führt, außer Selbstvergewisserung. Will man mit Worten noch irgendwas erreichen, irgendetwas auslösen, das zu Handlungen führt, darf man nicht gedankenlos die alten Leiern spielen. Die einzige Funktion, die Worte in einer Situation derartiger Unglaubwürdigkeit haben können, ist die der Selbstreflektion und ehrlichen Beschreibung der Realität. Alle Lippenbekenntnisse und Versprechungen verbieten sich zumindest für diejenigen, die in handelnder Position sind. Ein ehrliches Beispiel dafür gibt der niederländische König Willem-Alexander, der in simplen Worten die Realität der Pogrome von Amsterdam zusammenfasst: „Wir haben die jüdische Gemeinde in den Niederlanden im zweiten Weltkrieg im Stich gelassen und gestern haben wir erneut versagt.“ Für Deutschland müsste der entsprechende Satz von Bundespräsident Steinmeier lauten: „Nach dem Ende des dritten Reichs versagt Deutschland bei seiner historischen Aufgabe, ein sicherer Ort für Jüdinnen und Juden zu sein. Erneut fürchten sie in Deutschland um ihr Leben, durch unser Versagen.“ So oder so ähnlich wäre eine ehrliche Zustandsbeschreibung.
Zur Analyse gehört genauso, Ursachen zu beschreiben, was vielleicht unser größtes Problem ist. Analysen können sich widersprechen und es ist gut, dass wir die Dinge unterschiedlich werten und so der Wahrheit oft ein Stückchen näherkommen. Jedoch scheint kaum einer der politischen und gesellschaftlichen Akteure ein Interesse an der Wahrheitsfindung zu haben, wenn es um Antisemitismus geht. Vielmehr scheint bei vielen das Bedienen bestimmter Klientelmeinungen im Vordergrund zu stehen, womit der grassierende Antisemitismus vermehrt als Vehikel zur politischen Mobilisierung missbraucht wird. Von rechst wird er allein dem Islam zugeschoben, von links allein den Rechtsextremen. Ein treffendes Beispiel dafür lieferte jüngst die neue Sprecherin der Grünen Jugend, die sich noch in der Woche der finalen Abstimmung gegen die parteiübergreifende Antisemitismusresolution des Bundestages wandte, weil in ihr angeblich gegen Muslime gehetzt würde. Gedankenloses Bedienen einer Weltanschauung, die nicht zur Realität passt. Tatsächlich wurde in der Resolution die Realität sehr treffend dargestellt, denn in Wahrheit erlebt man Antisemitismus von rechtsmotivierten, von muslimischen und auch von linksmotivierten Tätern, letztere vor allem in der Free-Palestine Bewegung an den Universitäten. Alle drei Gruppen eint ihr Hass gegen den Westen und unsere Zivilisation, die auf universalistischen Ideen beruht und damit keinen Raum für Rassenreinheit, Kopftuchzwang oder ethnische Quoten bietet. Wer dabei allerdings die zentrale Rolle des politischen Islam leugnen will, macht sich nicht nur zum nützlichen Idioten der Mullahs in Teheran, sondern bereitet auch antimuslimischem Rassismus den Weg. Wenn der politische Islam nicht konsequent bekämpft wird, werden alle anderen Muslime in unserem Land zunehmend in Geiselhaft genommen werden.
Eine weitere Phrase aus dem Lexikon deutscher historischer Lehrsätze würde hier passenderweise lauten: Wehret den Anfängen. Aber wer diesen Satz noch sagt, so meinte Michel Friedmann schon 2018, begreift nichts. Wieder so eine längst entleerte Worthülse. Was also bleibt uns zum Schicksalstag der Deutschen eigentlich noch zu sagen? Meint es noch irgendwer ernst, beginnt man am besten bei der Loslösung des Wortes „Schicksal“ an diesem Tag, denn es suggeriert Fremdbestimmtheit, als lägen die Ereignisse nicht in unserer Hand. Solange nicht genügend von uns die drückende Last der Verantwortung spüren, wird die Prokrastination kein Ende finden, sondern zu weiteren Judenverfolgungen führen. Wir müssen von der trägen Selbstvergewisserung weg und stattdessen Selbstermächtigung üben, um es mit Joachim Gauck zu sagen. Das heißt, wir alle müssen konsequent den schmerzhaften Tatsachen ins Gesicht schauen, um selbst ins Handeln zu kommen und Handeln einzufordern. Um das zu erreichen, müssen wir zu eigenen Worten finden, die nicht leer sind. Lasst uns also das faktisch falsche „Nie wieder“ ebenso aus den Sonntagsreden streichen, wie „wehret den Anfängen“. Wir können damit beginnen, indem wir uns stattdessen eingestehen: Es geschieht gerade wieder.
Erst wenn wir die Unerträglichkeit dieses Satzes spüren, können wir handeln.
November 2024
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